Kulturelle Identität
Tunesien kann auf eine lange Geschichte zurückblicken, auf die die Bevölkerung sehr stolz ist. Das Zusammentreffen von Phöniziern, Römern, Berbern, Arabern, Andalusiern, Osmanen und Italienern wird oft von Tunesiern als Grund für ihre Toleranz und Offenheit angeführt und spielt eine wichtige Rolle fürs Selbstverständnis der Bevölkerung. Jede Region hat ihren Dialekt, traditionelle Gerichte und Trachten. Viele Tunesier können ihre Abstammung genau nachverfolgen, ohne dass jedoch die Herkunft als Mittel der Abgrenzung gegenüber anderen Tunesiern eingesetzt wird.
Eine Ausnahme bildet das Verhältnis zu Schwarzen Tunesiern. Sie sind vermutlich vor hunderten von Jahren aus Subsahara-Afrika eingewandert und leben heute in ganz Tunesien, vor allem aber im Süden des Landes, wo sie schätzungsweise 20% der Bevölkerung ausmachen. Sie werden von Teilen der Bevölkerung stark diskriminiert. So werden zum Beispiel Ehen zwischen Schwarzen und Weißen Tunesiern nicht gerne gesehen, und viele arbeiten nur in bestimmten Berufen, zum Beispiel in der Gastronomie. Schwarze in Führungspositionen sind bis heute die Ausnahme, auch wenn in der Regierung von Hichem Mchichi im September 2020 mit Kamel Degguiche zum ersten Mal ein Schwarzer Minister wurde.
Auch Menschen aus Subsahara-Afrika berichten immer wieder darüber, dass ihnen Rassismus entgegenschlägt. Seit dem Umbruch 2011 findet in der Öffentlichkeit zum ersten Mal eine Debatte über das Thema statt, verschiedene NGOs versuchen zum Beispiel mit Videoclips die Bevölkerung zu sensibilisieren. 2018 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass rassistische Diskriminierung unter Strafe stellt.
Neben den Einflüssen der verschiedenen Zivilisationen, die das Land in den vergangenen Jahrtausenden gestreift haben, definieren sich die Tunesier vor allem über Sprache und Religion. Ein überwiegender Teil der Tunesier sind Muslime und definiert sich auch als solche – wenn auch der Grad des Einflusses der Religion stark variiert von wörtlicher Auslegung der religiösen Texte bis zu einem rein kulturellen Verständnis. Das tunesische Arabisch weicht relativ weit vom Hocharabischen und den im Machreq gesprochenen Dialekten unterscheidet. Dies führt mitunter dazu, dass Tunesier von nicht-maghrebinischen Arabern mit dem Hinweis zurückgewiesen werden, sie seien keine „echten“ Araber.
Viele junge und ältere Tunesier fühlen sich Europa, insbesondere Frankreich und Italien, sehr nahe – mit den Bewohnern und dem Lebensstil dieser Länder sehen sie weit mehr Übereinstimmungen als zum Beispiel mit den arabischen Golfstaaten. Doch von Europa fühlen sie sich, unter anderem aufgrund rigider Visa-Bestimmungen und mangelnder Unterstützung während der Amtszeit Ben Alis, im Stich gelassen. Gleichzeitig weisen viele eine afrikanische Identität Tunesiens weit von sich: Für viele Tunesier beginnt Afrika südlich der Sahara. Diese doppelte Zurückweisung durch Europa einerseits und viele arabische Staaten andererseits, bei gleichzeitiger Negierung einer möglichen afrikanischen Identität, führte gerade unter jungen Tunesiern in der Vergangenheit zu einer Art kollektiven Identitätskrise. Gleichzeitig sind Ausländer in Tunesien rechtlich nicht gleichgestellt, wie zum Beispiel eine Studie der NGO Adli illustriert.
Aktuelle Kunst und Kultur
Tunesiens Kulturszene konzentriert sich weitestgehend auf die Hauptstadt Tunis. Fast alle unabhängigen Theater, mehr als zwei Drittel der nur noch rund zwanzig landesweit existierenden Kinos befinden sich dort und ein Großteil der Galerien und Festivals. Zwar gibt es in vielen, auch kleineren Städten des Landes staatliche Kulturhäuser, diese dienten jedoch oft mehr Propagandaveranstaltungen der RCD als kulturellen Ereignissen. Mit der Revolution lässt sich jedoch eine merkliche Verschiebung feststellen, so wurde zum Beispiel das Budget der Festivals in Tunis und Hammamet (Musik und Theater), die jeden Sommer stattfinden, stark gekürzt, dafür wird mehr in Festivals im Landesinneren investiert. Außerdem hat die alternative Musikszene mehr Aufmerksamkeit und Freiheiten bekommen. Im Herbst finden die Journées Cinématographiques de Carthage, das älteste afrikanische Filmfestival, und die Journées Théâtrale de Carthage statt, bei denen Filme beziehungsweise Theaterproduktionen vor allem aus dem arabischen Raum und Afrika gezeigt werden.
Im März 2018 wurde ein unter der Regierung Ben Ali begonnenes Prestigeprojekt, die Cité de la culture, eröffnet. Unter anderem ist dort ein Museum für moderne Kunst, ein Opernsaal (obwohl es in Tunesien keinerlei Opernproduktionen gibt) und die seit mehr als 30 Jahren geplante Kinemathek untergebracht.
Tunesien hat eine lange Filmtradition. Die ersten Filmproduktionen entstanden bereits um 1900, der erste mittellange Spielfilm in den 1920er Jahren, gedreht von Albert Samama Chikly. Nach einer Blütezeit in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren machten sich auch im tunesischen Kino die Zeichen einer allgemeinen Erstickung der Kulturszene und der Zivilgesellschaft im allgemeinen bemerkbar. Gegen Mitte der 2000er Jahre wagte eine Gruppe jüngerer Independent-Regisseure einen vorsichtigen Neuanfang, mit Filmen die mit gängigen Erzählschemas und Themen des klassischen tunesischen Autorenkinos brachen. Gleichzeitig dynamisiert sich die Dokumentarfilm- und Kurzfilmszene seit einigen Jahren, so dass dort oft die spannendsten aktuellen Produktionen zu entdecken sind. Allerdings leidet die Branche unter wirtschaftlichen Problemen vor allem im Bereich des Vertriebs. Die wenigsten Filme entstehen ohne staatliche Subventionierung. In den letzten Jahren zeichnet sich ein gewisser Aufwärtstrend ab. Zunehmend wird dabei auch der Einfluss ausländischer Ko-Produktionen auf den tunesischen Film in Frage gestellt.
Viele ausländische Großproduktionen wie zum Beispiel «Der englische Patient» oder Teile von «Star Wars» wurden in der tunesischen Wüste gedreht. Seit 2018 hat Tunesien eine eigene Kinemathek.
Der Schwerpunkt tunesischer Theaterproduktionen liegt auf sozialkritischem Schauspiel. Einige in Tunis angesiedelte unabhängige Theater präsentieren regelmäßig auch international erfolgreiche Stücke, wie zum Beispiel das El Hamra und das El Teatro, das von Zeineb Farhat und Taoufiq Jbeli geleitet wird und auch einen Ausstellungsraum hat, wo viele vor allem junge tunesische Künstler zu sehen sind. International am bekanntesten sind die Arbeiten von Fadhel Jaaibi und Jalila Baccar, deren kritische Stücke auf vielen arabischen und europäischen Festivals gezeigt werden. In der Regel werden Stücke auf tunesisch gespielt, meistens gibt es aber französisch übertitelte Aufführungen.
Die vielleicht bekannteste tunesische Musikrichtung ist der Mezoued, eine populäre Dudelsackmusik, ohne die kaum eine tunesische Hochzeit stattfindet, und mit dem die meisten Tunesier in einer Art Hassliebe verbunden sind. Auch der Maalouf, eine andalusische inspirierte Instrumental- und Vocalmusik, ist sehr beliebt. Viele junge Sänger greifen dabei auf Stücke aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts zum Beispiel von Saliha oder Hedi Jouini zurück, deren oft sehr freizügigen Texte heutzutage nur noch durchgehen, da die Stücke als Klassiker des tunesischen Liedguts gelten. Moderne Instrumentalmusik machen unter anderem die Oud-Spieler Anouar Brahem und Dhafer Youssef, die weit über die Grenzen Tunesiens hinaus bekannt sind.
Großen Erfolg vor allem bei Jugendlichen haben oppositionelle Liedermacher wie Bendir Man (der unter Ben Ali Auftrittsverbot hatte) oder der von der sufistischen Tradition inspirierte Mounir Troudi. Außerdem gibt es in Tunis eine kleine, aber wachsende Gruppe von DJs und Videokünstlern, die elektronische Musik machen. Der Rapper El General, der mit seinem Stück Rais El Bled («Der Präsident des Landes»), in dem er offen Ben Ali kritisierte, quasi die Hymne der tunesischen Revolution geschrieben hatte, konnte an den Erfolg allerdings kaum anknüpfen.
Dafür gerieten jüngere Rapper wie Kafon, Klay BBJ oder Weld El15, die in ihren Songs die Situation in den Armenvierteln und die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen beschreiben, in den Blick der Öffentlichkeit, meistens weil sie sich wegen Drogenkonsums oder als gewalttätig eingestufter Texte vor Gericht verantworten mussten, wie zum Beispiel Weld El15 mit seinem Song Boulicia Kleb («Polizisten sind Hunde). Der Rapper wurde im Dezember 2013 nach mehreren Gerichtsverfahren freigesprochen.
Neben tunesischen Musikern hören Tunesier in der Regel viel klassische arabische Musik wie beispielsweise Abdelwahab, Oum Kalthoum und Fairouz.
Viele Galerien, die vor allem in den nördlichen Vororten von Tunis wie La Marsa und Sidi Bou Said und in Hammamet angesiedelt sind, stellen junge tunesische Künstler aus. Im Palais Kheireddine, in der Altstadt von Tunis, befindet sich das Museum der Stadt Tunis, wo ebenfalls regelmäßige Ausstellungen stattfinden. Einen guten Überblick über aktuelle Tendenzen im Bereich Malerei, Skulptur und Photographie bietet der Printemps d’art de la Marsa, ein jährlich im Frühsommer stattfindendes Kunstfestival. International bekannt ist der Kalligraph Nja Mahdaoui, dessen Arbeiten selbst Flugzeuge zieren.
Graffiti-Künstler erobern zunehmend den öffentlichen Raum, allerdings geraten sie immer wieder in Konflikt mit dem Staat. Auf der Insel Djerba wurde mit dem Projekt Djerbahood ein ganzes Dorf in ein Open Air-Museum verwandelt. Auch die Karikaturen- und Comicszene, mit dem regimekritischen _Z_ als Vorreiter, erlebt seit 2011 einen Boom, auch junge Fotografen etablieren sich zunehmend.
Tunesische Literatur wird sowohl auf Arabisch als auch auf Französisch verfasst, so dass sie zumindest in Ausschnitten auch für ein europäisches Publikum zugänglich ist (wobei arabischsprachige Literatur leider selten übersetzt ist). Eine leider nicht online verfügbare Ausgabe der britischen Literaturzeitschrift Banipal widmet sich modernen tunesischen Autoren. Der tunesische «Nationaldichter» ist Abu El Qassem Chebbi (1909-1934), der stark von der europäischen Literatur der Romantik beeinflusst war. Seine Gedichte sind Teil jedes tunesischen Schulunterrichts. Sein Gedicht «An die Tyrannen dieser Welt», das sich ohne sie direkt zu benennen an die französische Kolonialmacht richtet, ist neben «Der Wille zu leben» (von dem einige Verse zum Refrain der tunesischen Nationalhymne gemacht wurden) das bekannteste Werk Chebbis.
In Tunis findet jedes Frühjahr eine Verkaufsmesse statt, auf der hauptsächlich Verlage aus dem arabischen Raum ausstellen. Tunesische Verlage veröffentlichen 1000 bis 1500 Bücher pro Jahr, wobei es sich mehrheitlich um wissenschaftlich-technische Publikationen handelt. Die Situation tunesischer Verleger ist daher überwiegend prekär. Nur 20% der Tunesier gaben an, 2009 ein Buch gekauft zu haben. Mit der Revolution wurden Einfuhrbeschränkungen und Zensur von Büchern aufgehoben, vor den Buchhandlungen bildeten sich über Wochen regelrechte Menschentrauben, angelockt von ehemals verbotenen vor allem politischen Büchern.
Die Texte stammen vom Länderportal der GIZ, welches vom Netz genommen ist. Verfasser ist Sarah Mersch, freie Journalistin und Trainerin. Sie arbeitet unter anderem für verschiedene ARD Anstalten, die Deutsche Welle und Online- und Printmedien. Die Urheber wurden soweit möglich informiert, dass auf meiner Tourismusseite zu Tunesien die Inhalte veröffentlicht werden.